Der Eichendorf'sche Stressmoment

Kommt dir folgendes Szenario vielleicht bekannt vor? Du denkst an etwas, das du dir sehnlich wünscht – an einen großen Traum, den du dir unbedingt erfüllen möchtest; etwas, woran du vielleicht schon lange arbeitest. Üblicherweise gibt dir dieser Gedanke ein anregendes, gutes Gefühl – doch diesmal nicht: Plötzlich empfindest du etwas anderes: Nämlich Stress!

Nicht etwa nur eine leichte Anspannung, sondern gewaltiger Stress. Beinahe schon Panik. In diesem Moment kannst du nicht stillsitzen; du hast das Gefühl im nächsten Moment zu explodieren, wenn du nicht augenblicklich etwas unternimmst. Du willst unbedingt etwas tun – doch du verstehst nur zu gut, dass es schlicht und einfach keinen schnellen und genau kalkulierbaren Weg gibt, auf dem du dein Ziel erreichen kannst.

Dieses Phänomen bezeichne ich als einen Eichendorf’schen Stressmoment. Der Begriff ist geprägt durch den Roman Die Gefängnisinsel. Als Martin Eichendorf nach seiner Flucht auf der Gefängnisinsel festsitzt, genießt er es vorerst trotzdem sehr, dass er der Gefangenschaft entkommen ist. Nach wenigen Tagen allerdings wird ihm die Insel zu klein – denn, als er an Irina, seine Verlobte, denkt, setzt besagter Effekt ein: Martin wünscht sich sehnlich, Irina wiederzusehen. Er will mit ihr sprechen, möchte wissen wie es ihr geht. Allerdings fehlt ihm jede greifbare Möglichkeit, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen.

In Folge dessen wird Martin unruhig. Er möchte unbedingt etwas unternehmen … kann es aber nicht, egal wie sehr er es versucht. Seinen Alltag auf der Insel kann er nicht mehr genießen; er beginnt sich ähnlich eingesperrt zu fühlen wie zuvor im Gefängnis.

Ein Eichendorf’scher Stressmoment entsteht also, wenn dir bewusst wird, dass dir etwas für dich persönlich Wichtiges im Leben fehlt, das für dich allerdings nicht greifbar ist. Du kannst von deinem Ziel träumen, aber egal wie sehr du dich anstrengst, du kannst es (vorerst einmal) nicht verwirklichen. Du realisierst, dass du nicht den Alltag (er-)lebst, den du eigentlich leben willst – doch du kannst es (vorerst) nicht ändern und hast Angst, dein Leben zu verpassen. Dein Wunschtraum zerschellt vor deinem geistigen Auge an der steinharten Realität.

Durch diesen Sachverhalt entsteht eine Ungeduld, die ruhelos macht und verhindert, dass du deinen gegenwärtigen Alltag genießen, bzw. positiv erleben kannst. Mehr noch: Du beginnst dich in deinem Alltag regelrecht eingesperrt zu fühlen.

Damit ist klar wie sich ein Eichendorf’scher Stressmoment definiert – aber was tun, wenn du dich in dieser Situation wiederfindest? Wie gehst du am Besten damit um, wenn du an der Welt zu verzweifeln beginnst, weil du aller Bemühungen zum Trotz dein Leben nicht so leben kannst, wie du es dir wünscht?

Im ersten Moment ist es wichtig die nun in dir aufkeimende Hektik unter Kontrolle zu bringen und weiterhin Ruhe zu bewahren. Lass dich nicht von deiner Machtlosigkeit dazu drängen, überstürzt zu handeln … und erst recht nicht dazu, deinen Wunsch aufzugeben – denn das wäre ein fataler Fehler! Einen Eichendorf’schen Stressmoment solltest du keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen: Schließlich ist er ein Zeichen dafür, dass dir in deiner Alltagsrealität etwas Wichtiges fehlt und die erwünschte Veränderung offenbar auch nicht so ohne Weiteres eintreten wird. Er ist tatsächlich so etwas wie eine Mangelerscheinung!

Um mit einem Eichendorf’schen Stressmoment fertigzuwerden, kann es sehr hilfreich sein, wenn du verstehst, was eigentlich gerade in dir vorgeht: Du leidest in Wahrheit nicht am akuten (Zwangs)Verzicht … was dich wirklich quält, ist das Bewusstsein, dass (momentan) kein Weg an dein Ziel zu führen scheint. Es ist nicht dein Hier und Jetzt, das dich plagt – du musst also nicht um jeden Preis sofort eine Veränderung herbeiführen.

Auch Martin Eichendorf meistert diese Situation, indem er sich darauf besinnt, dass ihm vorschnelles Handeln viel eher schaden als nutzen würde – und, dass er besser daran tut, sich selbst die Zeit zu geben, die es braucht.


»Besser ich würde Irina und all die anderen meinetwegen in einem halben Jahr sehen als überhaupt niemals wieder.«

- Martin Eichendorf -

Es besteht gar kein Zweifel: Ein Eichendorf’scher Stressmoment kann eine ausgesprochen belastende Situation sein. Ein bodenständiger Mensch wird an dieser Stelle den einfachen Weg gehen und diese Last loswerden, indem er seinen Wunsch aufgibt und seine momentane Realität akzeptiert. Er wird sich stattdessen auf ein Ziel konzentrieren, das mit gut kalkulierbaren Schritten erreichbar ist – ein »realistisches« Ziel also. Selbst, wenn dieses Ziel für ihn eigentlich gar nicht wirklich attraktiv (geschweige denn nachhaltig erfüllend) ist.

Doch als Visionär, Träumer oder Freizeitpionier ist dir klar, dass der einzig richtige Weg für dich darin besteht, dein wahres Ziel weiterhin konsequent zu verfolgen, auch wenn es dich an deine Grenzen bringt und es keine Garantie für deinen Erfolg gibt. Denn es ist definitiv besser, mit Leidenschaft deinem Traum hinterherzulaufen, als ein Leben zu führen das zwar einfacher, aber für dich weitestgehend inhaltslos ist.

Thomas Sailer als Martin Eichendorf im Kurzfilm »Die Gefängnisinsel: Doku einer Flucht«
Bildquelle: Thomas Sailer 


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