Ein Ort, der die Seele zerstört: Der Schrecken von Werra I
Bis zu seiner Flucht am 03. April 2017 war Martin Eichendorf in einem Hochsicherheitsgefängnis inhaftiert. Unschuldig hatte er lange 28 Monate über eine Hölle auf Erden ertragen müssen.
Werra I, die Gefängnisanstalt aus dem Roman Die Gefängnisinsel, ist kein gewöhnliches Gefängnis. Es ist ein Ort an
den Verbrecher gebracht werden, die niemals wieder in Freiheit leben werden.
Wer Insasse dieser Anstalt ist, wird sie niemals wieder verlassen. Oberste
Priorität der Anlage ist eine absolute Ausbruchssicherheit … hingegen kümmert
es niemanden, wenn Insassen an der immensen psychischen Belastung zerbrechen,
der sie in dieser Einrichtung ausgesetzt sind. Menschenrechte scheinen an
diesem Ort nicht zu gelten.
Doch welche Faktoren machen Werra I eigentlich so
außergewöhnlich schrecklich? Schließlich ist wohl kein Gefängnis ein angenehmer
Ort, an dem man gerne sein möchte. Doch auch hier gibt es Abstufungen. Es ist
ein Unterschied, wie viel Bewegungsfreiheit die Häftlinge innerhalb der Anstalt
haben; welches Beschäftigungsangebot es gibt; wie die Aufseher mit den Häftlingen
umgehen, und so weiter.
Da es sich bei den Insassen von Werra I um Schwerverbrecher
handelt, die niemals entlassen werden, ist der Umgangston in der Anstalt
entsprechend rau: Die Häftlinge sollen nicht resozialisiert werden, sondern
absoluten Gehorsam den Wärtern gegenüber lernen. Die meisten Wärter sprechen
die Häftlinge grundsätzlich im Befehlston an; beim kleinsten Anzeichen von
Ungehorsam drohen sie mit körperlicher Gewalt und zögern auch nicht diese
auszuüben. Wer sich dann immer noch wehrt, muss damit rechnen von den Aufsehern
erschossen zu werden. Sicherheitsrisiken werden nicht geduldet.
Soweit, so gut. Das sind wohl harte Bedingungen, die jedoch
auch in anderen Gefängnissen mit hoher Sicherheitsstufe vorherrschen. Doch es
gibt zwei Besonderheiten, die es den Insassen von Werra I besonders schwer
machen, ihren Alltag in Gefangenschaft durchzustehen.
Das ist einerseits die Tatsache, dass die Häftlinge komplett
von der Außenwelt abgeschirmt werden. Es gibt keine Besuchstage – also werden
die Insassen ihr Leben lang niemanden mehr aus ihrem früheren Umfeld sehen.
Aber nicht nur das: Es gibt auch keinen Postverkehr – die Insassen dürfen weder
Post empfangen, noch versenden. Die Häftlinge haben keinen Zugang zum Internet
oder wenigstens zu Telefonen. Damit können sie weder von Angehörigen oder
Freunden kontaktiert werden, noch können sie selbst jemanden kontaktieren. Mit
dieser gewiss nicht menschenrechtskonformen Maßnahme möchte die Anstaltsleitung
gewährleisten, dass weder ein Ausbruch organisiert werden kann, noch
irgendwelche Gegenstände ins Gefängnis geschmuggelt werden können.
Allerdings gehen die Einschränkungen hinsichtlich eines
Fensters zur Außenwelt noch weiter: Die Insassen dürfen noch nicht einmal
Medien konsumieren, wie Zeitungen oder Rundfunk. Die Anstaltsleitung möchte
sichergehen, dass die Häftlinge keinerlei Information darüber haben, was
außerhalb der Gefängnisanlage vor sich geht. Dadurch fehlt den Insassen bald
jeder Bezug zur Außenwelt und für sie existiert wirklich nur noch das Innere
des Gefängnisses.
Die Häftlinge dürfen zu keinem Zeitpunkt an die frische
Luft. Einen Gefängnishof, den auch Insassen betreten dürfen, gibt es nicht. Ihr
gesamter Alltag spielt sich somit in geschlossenen Räumen ab. Auch haben sie
keinerlei Information darüber, wo sich die Gefängnisanlage befindet – sie
wissen nicht, dass die Anlage auf einer Insel im Ägäischen Meer liegt. Für die
Häftlinge ist Werra I ein Ort irgendwo im nirgendwo.
Lediglich einmal pro Woche gibt es eine allgemeine
Filmvorführung, welche die Insassen in stets unterschiedlich zusammengesetzten
Gruppen besuchen. Doch selbst dabei gilt militärische Disziplin: Die Häftlinge
dürfen kein Wort sprechen und haben die ganze Zeit über stramm und bewegungslos
zu sitzen. Wenn sich einer der Gefangenen bewegt, wenn auch nur um eine bequemere
Sitzposition einzunehmen, bedeutet das einen sofortigen Abbruch der
Filmvorführung für die gesamte Gruppe. Gezeigt werden ausschließlich Filme, die
bereits vor der Eröffnung der Gefängnisanlage erschienen sind – die Abschottung
der Insassen geht also so weit, dass sie nicht einmal von neuen Filmen erfahren
dürfen. Kurzum: Die Häftlinge sollen vergessen, dass eine Außenwelt gegenwärtig
überhaupt noch existiert.
Aber nicht nur von der Außenwelt werden die Häftlinge rigoros
abgeschirmt. Auch innerhalb der Anlage werden sie mehr oder weniger isoliert:
Die meisten Insassen sitzen wie Martin Eichendorf in Einzelzellen. Kontakte unter den Häftlingen sind
explizit unerwünscht. Es wird nicht toleriert, dass sich Freundschaften oder
Netzwerke entwickeln – es ist den Insassen in keiner Weise erlaubt, sich zu
organisieren: Sämtliche gemeinschaftliche Aktivitäten von Häftlingen könnten
immerhin ein Sicherheitsrisiko darstellen.
Der Alltag der Insassen ist streng strukturiert und läuft an
sieben Tagen pro Woche (mit Ausnahme der wöchentlichen Filmvorführung) nach
demselben Schema ab: Um 6:00 Uhr ertönt das Wecksignal in den Zellenblöcken
(jedenfalls in dem Zellenblock, in dem Martin Eichendorf inhaftiert war. Es ist
möglich, dass andere Zellenblöcke andere Weckzeiten haben, damit nicht zu viele
Häftlinge auf einmal im Speisesaal, bzw. in den Garderoben sind). Nach dem
Frühstück müssen die Häftlinge arbeiten: Alte Autos und Industriemaschinen in
ihre Einzelteile zerlegen – diese Maßnahme dient, ebenso wie die
Filmvorführungen dazu, dass die Häftlinge eine Beschäftigung haben und nicht
innerhalb von wenigen Tagen den Verstand verlieren.
Zwischendurch gibt es ein Mittagessen, nach der Arbeit
müssen die Insassen duschen und dann umgehend zurück in die Zellen. Dort halten
sich die Häftlinge etwa 14 Stunden pro Tag auf, in vollkommener Monotonie.
Das ist der zweite Grund dafür, dass der Alltag in Werra I
wohl noch härter ist als in den meisten „herkömmlichen“ Gefängnissen: Insassen
haben dort keinerlei Möglichkeit irgendetwas anderes zu tun als zu arbeiten oder
zu essen – beides strikt nach Vorschrift, wohl gemerkt.
In den Zellen dominiert grau in grau: Graue Betonwände,
keine Fenster. In der Zelle befindet sich ein Bett, eine Toilette und eine
Waschmuschel mit Seife, Zahncreme, Zahnbürste und Rasierer. Mehr nicht. Jede
Art von persönlichen Gegenständen – und mögen sie noch so harmlos sein – ist
den Häftlingen verboten. Es gibt keine Bücher, Magazine, Musikinstrumente,
Poster, Sammelfiguren oder dergleichen. Dadurch ist es dem Insassen praktisch
unmöglich, etwas in der Zelle zu verstecken – worin der Grund für diese
drakonische Maßnahme liegt. Somit bleibt den Häftlingen nichts zu tun als zu
warten und zu schlafen. Eine Leere, die verrückt macht.
Man kann behaupten, dass den Insassen das letzte bisschen
Identität und Lebensinhalt genommen wird: Sie haben zu keinem Zeitpunkt, eben
auch nicht in der Zelle die Möglichkeit, ihre Persönlichkeit auszuleben. Sie
tragen nicht nur einheitliche Kleidung und müssen ihre Kopfbehaarung abrasieren
– sie tun auch alle das Gleiche. Auch ihre Namen sind im Prinzip irrelevant:
Untereinander dürfen sie ohne guten Grund nicht miteinander sprechen und von
den Wärtern werden sie meistens einfach im Befehlston mit „Du!“ oder „Du da!“
angesprochen. Kein Name, noch nicht mal eine Nummer.
In der Hochsicherheitsanstalt Werra I drohen keine brutalen
Foltermethoden. Körperliche Gewalt wenden die Wärter nur an, wenn jemand die
strengen Vorschriften verletzt – wer sich angepasst verhält, hat diesbezüglich
nichts zu befürchten.
Dafür ist Werra I ein Ort, der die Seele nach und nach
zerstört. Ein Ort, der das Leben auf bloßes Funktionieren beschränkt und jede
Form von Lebensinhalt praktisch unmöglich macht. Eine Einrichtung, die ihre
Insassen zwingt ihre positiven Erinnerungen und Gefühle aufzuzehren, bis sie
nur noch leere Hüllen sind, die einfach nur Tag für Tag tun was von ihnen
verlangt wird. Manche verfallen auch dem Wahnsinn – woraufhin sie von den
Wärtern zum Krüppel geschlagen oder erschossen werden.
Damit ist Werra I ein Ort der absoluten Machtlosigkeit. Ein
Ort, an dem man existieren, nicht aber leben kann.
Als Inspiration für dieses Gefängnis diente die Idee einer
gesellschaftlichen Rolle, die von anderen gar nicht als schrecklich angesehen
wird, wohingegen sie das betroffene Individuum erstickt. Etwa ein Arbeitsplatz,
der als derart quälend empfunden wird, dass er auch die Freizeit – also den
gesamten Alltag – wertlos werden lässt. Insofern entspringt Werra I einem
ähnlichen Konzept wie die Firma Ducker Druck aus meinem Debütwerk Der Freizeitpionier, in der Ferdinand Grenzmann sich zu Beginn der Geschichte
vollkommen seinen gesellschaftlichen Pflichten ausgeliefert sieht und mit
dieser Situation derart unglücklich ist, dass sie sein ganzes Leben
vereinnahmt.
Werra I ist somit, ebenso wie Ducker Druck, eine
Versinnbildlichung eines Zustandes, der für einen Freizeitpionier inakzeptabel
ist. Ein Umfeld, in dem die eigenen Träume nicht ansatzweise gelebt werden
können. Eine Situation, in die man geraten ist, weil andere es so wollten – und
man selbst es verabsäumt hat rechtzeitig das Ruder in die Hand zu nehmen. Für
Menschen, die nicht viel über das Leben nachdenken vielleicht gar nicht weiter
schlimm … doch für einen Freizeitpionier die Hölle auf Erden.
![]() |
Thomas Sailer als Martin Eichendorf im Film "Die Gefängnisinsel - Doku einer Flucht" |
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